Die europäische Sozialdemokratie des 20. Jahrhunderts wollte die „bildungsfernen Schichten“zum Publikum der Hochkultur machen. Sozialer Aufstieg durch Bildung, Kultur für alle, undschließlich, als Wendung von der Rezeption zur Produktion: Kultur von allen. Um und nach demtranslokalen 1968 kulminierten die Praxen, die diese Programme nicht nur im „Westen“ breiterprobten und alle möglichen Erfolge und Fehlschläge nach sich zogen, vom Bandkollektiv über dieKommune bis zur Auflösung der Kunst ins Leben. Irgendwann in den letzten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts kippte diese emanzipatorisch gemeinte Erzählung ins Dystopische. Die Partizipationwurde zum Imperativ, das Mitmachen zum Prinzip und die Selbst-Aktivierung zur Pflicht, um sichnicht völlig aus den medialen und selbstregierenden Netzen herauszunehmen. Das neoliberaleManagement wollte seinerseits das Publikum bis ins Letzte ausmessen und immer neueauszumessende Publika „erschließen“. Hier beginnt sich auch ein Kreis zu schließen: von derAudienz der hohen Kunst zum Audit, der Prüfung der Kennzahlen als neuer hoher Kunst.
Zuletzt hieß das Amalgam dieser sehr unterschiedlichen Politiken in der „Programmatik“ derEUropäischen Kulturpolitik: audience development.
Nach der Lüneburger Konferenz Publicum, die 2005 Fragen der Rezeption nicht nur in der Kunstvor allem durch das Prisma von Öffentlichkeitstheorien las, versucht das eipcp gemeinsam mitseinen Partnern nun ein weiteres Mal, die Entwicklung von Praxis und Begriff des Publikums zuhinterfragen. Die internationale Konferenz After Audience soll über Evidenz und Kritik desPartizipationsimperativs und des Quantifizierungswahns hinausgehen und Fragen stellen nach denNachkommen der Figur, die einmal Publikum geheißen hat. Was ist in Zeiten des Imperativs derPartizipation aus der Figur des Publikums geworden? Wie wären ungefügig-aktive Kollektive desmaschinischen Kapitalismus vorzustellen? Wie können wir an die Narrative und Praxen um 1968anschließen, die nicht zuletzt feministische, antikoloniale und antikapitalistische Praxen waren?Welche Potenzialitäten können wir heute technopolitischen Aspekten in diesen Fragenzuschreiben? Wie lässt sich anstelle des publicum als bürgerlicher Öffentlichkeit heute eine neueFigur der technökologischen Mitte konzeptualisieren, als Subjektivierungsweise, die über dieUnterscheidung von Produktion und Rezeption hinausgeht und zugleich eine neueemanzipatorische Wendung erlaubt?
Eine Veranstaltung des eipcp im Rahmen von Midstream in Kooperation mit Belvedere 21.
Midstream ist ein gemeinsames Projekt von eipcp (Wien), LCCA - Latvian Centre for Contemporary Art (Riga) und
Museo Nacional Centro de Arte Reina SofÃa (Madrid).
Begrüßung und Einführung
Monika Mokre (Österreichische Akademie der Wissenschaften)
Luisa Ziaja (Belvedere, Wien)
After Audience
Manuel Borja-Villel (Museo Reina SofÃa, Madrid)
Stella Rollig (Belvedere, Wien)
After Experience
Boris Buden (eipcp permanent fellow)
Solvita Krese (Latvian Centre for Contemporary Art Riga)
After Resistance
Christoph Brunner (Universität Lüneburg)
Kelly Mulvaney (University of Chicago)
After Production (of Your Own Satisfaction)
Brigitta Kuster (Humboldt-Universität Berlin)
Stefan Nowotny (Goldsmiths, University of London)
After Representation Before Study
Isabell Lorey (Universität Kassel)
Ruth Sonderegger (Akademie der bildenden Künste Wien)
After e-flux
Lucie Kolb (Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel)
Gerald Raunig (Zürcher Hochschule der Künste)
Video zur Session "After Audience. Stella Rollig im Gespräch mit Manuel Borja-Villel"